Zum dritten Mal auf meiner Reise rollt ein Bus, mit mir vorn auf dem ersten Platz beim Fahrer, nach Jerusalem.
Im Bus stelle ich fest, dass ich meinen Pass in Haifa vergessen habe. Ich rufe im Hostel an, ob ich auch ohne Pass einchecken kann. No way. Also frage ich Shlomo, ob ich bei ihm schlafen kann. Er ist da und freut sich auf mich.
Wenn der Bus den Berg nach Jerusalem hoch fährt, läuft immer genau dann im Radio eine gute Musik- oder ist es einfach meine Freude, die die Musik "schön-hört" ? Durch die großen Bus-scheiben bei der "Einfahrt" läuft der ewig gleiche Film... Die Familien auf der Straße, die eilig und geschäftig die Straße überqueren. Viele Männer tragen die Palmblätter, eingepackt in Plastik, das Bild kenne ich doch...Sukkot, das Laubüttenfest rückt näher ... Vor genau drei Jahren kam ich um diese Zeit an, vier Monate Freiwilligendienst im Hospiz.
Bis auf die Frühjahrsmonate Februar, März und April kenne ich jetzt alle Jahreszeiten hier. Ich höre es klingeln..was heißt das? Mein Kalender fürs nächste Frühjahr ist leider voll...
In der Straßenbahn das Bild, was man so wahrscheinlich nur in Jerusalem finden kann...
Ich streife durch das schöne, moderne Viertel rund um den großen Markt Mahane Jehuda, genieße das Gewimmel, die vielen bunten Menschen, die Musik in den Straßen. Es zieht mich dann in das Gassengewirr der Altstadt.
Wie immer sitzt Musa in seinem Keramikladen, wie immer bietet er mir Tee an, wie immer plaudern wir. Dieser junge Palästinenser wird sein Leben wahrscheinlich, wie sein Vater, in diesem Laden verbringen. Warum auch nicht, er hat Glück, er hat Arbeit, kommt mit Leuten aus aller Welt in Kontakt.
Seine schön bemalten Teller sind bei uns zu Hause täglich in Gebrauch. Musas Familie lebt in diesem Haus in der Altstadt, die Keramikwerkstatt ist in Hebron. Musa probiert gerade ein neues Design aus: mit großem Granatapfel in der Mitte, leuchtend rot. Ich frage ihn, ob es gerade ruhig ist in Jerusalem. Insgesamt ja...
Er erzählt mir dann die so häufig zu hörende Geschichte, die sich vor ein paar Tagen ereignete: von einem jungen Mann, der von den Soldaten erschossen wurde, als er auf deren Rufen hin wegrannte. Diese Geschichten graben sich in die Herzen. Hinterlassen Haltungen, Gefühle, Hass. Wahrscheinlich, so vermutet Musa, hatte er keine Papiere und ist deswegen gerannt. Aber er weiß es nicht. Keine Aussage über einen Messerangriff. Ich kann ihm diese Version glauben, oder auch nicht. Es ist immer das Gleiche, hartnäckig halten sich die Konstellationen, die Meinungen in den Lagern.
Und er schließt mit den Worten: they killed him just for nothing. They are Killers.
Und die anderen, Musa? Die Messerstecher? Sind doch auch Killer. Oder?
Welche Bilder finden den Weg ins Fernsehen? Ab wann zeichnen die Kameras die Vorgänge auf?
Ich erinnere mich an den Morgen, als direkt vor dem Hospiz, in dem ich gearbeitet habe, ein Mensch erschossen wurde.
Ich bin sofort rausgerannt, hab ihn da liegen sehen, zugedeckt schon, hinter dem Absperrband. Die Kameras sind schon da, richten sich auf bestimmte Punkte des Geschehens. Ich sehe einen jungen Soldaten wanken, ihm ist schlecht, er wird von seinen Kameraden gehalten. Ich vermute, er war der Schütze. Menschen gehen vorbei, kommen direkt aus der Altstadt, Kinder weinen, Mütter ziehen sie schnell weiter. Diese Erinnerung hat sich in mich eingegraben. Und bis heute weiß ich nicht, was damit zu tun ist.
Ich verabschiede mich von Musa, will die Abendsonne auf dem Ölberg sehen. Das versteht er gut, it's the best time there.
Also geht's am Lions Gate wieder raus. Vorbei an den gut bewachten Zugängen zum Tempelberg. Oder zum Felsendom, je nach Sichtweise.
Das Gräberfeld auf dem Ölberg leuchtet in der Abendsonne.
Am Golden Gate stehen jüdische Mädchen und beten an den Steinen dieses zugemauerten Tores. Nach jüdischem Glauben erscheint der Messias dort, öffnet das Tor, erlöst die Seelen. Deshalb sind die Gräber auf dem gegenüberliegenden Ölberg die teuersten der Welt. Die launische Geschichte hat direkt an den Mauern des Golden Gate einen muslimischen Friedhof hinterlassen. Und ich denke wieder: Bei den Gräbern kommt alles zusammen. Ich stelle mir hier immer vor, dass die Ahnen friedlich nachts auf den Steinen zusammen sitzen und die Köpfe wiegen...
Heute wiegen sich die jüdischen Mädchen im Gebet an der Mauer, sitzen zusammen auf den Steinen, auf den Gräbern der Muslime. Sie lachen, singen, es sieht aus wie ein Picknick der Pfadfinder. Ist es aber nicht.
Es ist, wie so oft hier in Jerusalem, eine aufgeladene symbolische Handlung, an einem aufgeladenen symbolischen Ort. Deshalb sind die Mädels auch so gut bewacht. Damit sie im Rahmen bleiben und ihnen nichts geschieht. Oben schaut ein Mann herab, er befindet sich auf dem Gelände der Al Aksa Moschee.
Gefährlicher Irrsinn- Tiefer Glaube- Provokation-Sehnsucht nach dem Messias....?
Die Mädels sind jünger als meine beiden Töchter.
Ich würde es ihnen verbieten, da hin zu gehen.
Dann, kurz nach Sonnenuntergang- die Rufe des Muezzin- heute singt einer besonders schön. Seine kraftvolle Stimme schlängelt sich an diesen für mich so ungewohnten Melodien entlang. Der Schall trägt die Rufe gen Himmel, taucht die gesamte Altstadt in diesen Klang. Die Rufe sind fordernd, verlockend, ansprüchig...natürlich sind das alles Interpretationen von mir, aber ich lausche in mich hinein, was ich empfinde. Und da kommen mir solche Worte in den Sinn. Religion ist ansprüchig , an den Gläubigen. Sie gibt, und sie fordert. Die Gläubigen strömen hinein, auf den Tempelberg.
Drei kleine Jungs sprechen mich an, ich merke, sie wollen einfach herausfinden, in welcher Sprache ich antworte. Mit meinem langen Rock, den ich hier üblicherweise trage, an diesem Ort, bin ich vielleicht nicht immer zu identifizieren. Nach meiner englischen Antwort leuchten ihre Augen und sie rufen: welcome to Palestine und rennen lachend davon.
So klein und schon so aufgeladen. Die Mädels am Golden Gate sind noch in Sichtweite. Das hat fast etwas Gruseliges. Wer nährt dies? Die Eltern, die Medien, die Lehrer, die älteren Jugendlichen? Oder kommt alles zusammen?
Und ja: Jeder will sein Land. Beide.That's it. Wer kann es ihnen verübeln?
Weiter. Ein kleiner Zettel fällt mir ins Auge: Im Refektorium der Erlöserkirche findet ein Vortrag statt. Die Referentin: Eveline Goodman-Thau, erste Rabbinerin von Österreich. 84 jährig, Zeitgenossin meiner derzeitigen Schützlinge, Professorin, auch eine Überlebende- sie spricht mir in Vielem aus dem Herzen. Ich sauge ihre Worte auf, folge gebannt ihren Erzählungen über das europäische Judentum, über ihre Flucht aus Deutschland in ein Versteck nach Holland, ihre Inauguration als Rabbinerin und in welche Konfliktlinien sie da geriet.
Alles hängt irgendwie zusammen, und manchmal trifft man wirklich einfach die richtigen Leute.
Vor knapp drei Jahren habe ich hier den Weihnachtsgottesdenst erlebt, bevor ich in der Heiligen Nacht zusammen mit anderen nach Bethlehem gewandert bin.
Nun sitze ich im Refektorium und höre dieser interessanten Professorin, Feministin, Theologin und Rabbinerin zu. Sie spricht über den interreligiösen Dialog, über
die folgerichtige Entstehung des Zionismus in einer Zeit, als in Europa überall nach nationalen Identitäten gesucht wurde, so auch im Volk der Juden. Sie kommt zu den Wurzeln des
Antisemitismus- das ist teilweise harter Tobak für manche der frommen , christlichen Zuhörer. Bei mir kommen Schlüsselworte an:
sie redet von Brücken über dem Abgrund, von ihrer Liebe zu Israel, von dem Wunsch, dass es zwischen Juden und Arabern befriedet wird und dass sie schon als junge Frau die Sehnsucht hatte, keine
Uniformen mehr auf der Straße zu sehen. Dass es nach 70 Jahren noch so ist, schmerzt sie und lässt sie weitermachen. In ihrer Lehre fokussiert sie sich auf die Gemeinsamkeiten der Theologien der
drei Religionen. Sie nennt vier klassische Sprachen Europas: Griechisch, Lateinisch, Hebräisch und: Arabisch. Und wischt forsch Berührungsängste vom Tisch. Um noch ihre Großmutter zu
zitieren: Wenn Gott uns dieses Land hätte geben wollen, ohne die Araber, hätte er es getan.
Der Abend ist ein Genuss- spät nachts dann sitze ich mit Shlomo auf seinem Dach. Er hat mich da hochgezogen, die letzte Mauer konnte ich nicht selber klettern. Während unseres Gesprächs unter dem Mond denke ich manchmal schon etwas bange an den Abstieg. Ich sehe mich schon miauend wie eine Katze auf einem Laternenpfahl den Mond anmaunzen.
Aber irgendwie bin ich dann wieder runter gekommen und hundemüde ins Bett gefallen. Wie gut, einen Freund in Jerusalem zu haben.
Und eine Freundin:
Ausgedehntes Frühstück mit Dalhia in der schicken Mamilla Mall am Rande der Altstadt. Jerusalem - du Schöne.
Und Dalhia bringt mich auf neue Gedanken, die sicher in irgendeiner Form in mein Stück einfließen.
Bevor ich Jerusalem verlasse, setze ich mich noch in die Straßenbahn. Ich habe mir immer vorgenommen, diese Linie einmal ganz zu fahren. Bisher fehlte immer ein bestimmter Teil- heute schließe ich diese Lücke und fahre an die Endhaltestelle im Nordosten.
Die Linie 1 ist die einzige Straßenbahn in Jerusalem. Sie ist politisch umstritten, wird von vielen Palästinensern als Symbol der Besatzung betrachtet und gelegentlich attackiert. Und beim Durchfahren sehe ich, warum. Die Bahn fährt durch ein Gebiet, welches sich hinter der einst vereinbarten Linie befindet. Dies ist potentiell palästinensisches Territorium, wenn es denn zu einer Zweistaatenregelung kommt. Nach dem Krieg von 1967 besetzte Israel dieses Gebiet, baut eine Siedlung nach der nächsten. Klare Ansage des jüdischen Staates. Ich verfolge gebannt den Streckenverlauf auf Google maps. Der blaue Punkt meines aktuellen Standorts tanzt harmlos Richtung Nordosten. Die Bahn gräbt sich weiter hinein in dieses umstrittenene Gebiet. An arabischen Dörfern vorbei, fährt sie in die großen jüdischen Siedlungen. Dieses Wort ist irreführend: es sind Städte, schöne große jüdische Städte. Hier wurden Fakten geschaffen. Das ist irreversibel. Wozu also noch diskutieren. Annehmen? Araber dort hinein integrieren, die bereit sind friedlich mit den Juden zusammen zu leben? Als Jüdische Familie in einem solchen "Vorort"von Jerusalem zu leben, ist schon Programm.
Entsprechend ist die Sicherheitslage. Mit jeder weiteren Haltestelle steht mehr bewaffnete Security an der Bahn. Es leert sich. Ich bin traurig, habe viele Fragen. Sie gehören in mein Stück, ich muss alles mitnehmen nach Hause. Meine Liebe zum Land Israel, zur jüdischen und arabischen Kultur, meine Fragezeichen, meine Hoffnung, dass es sich irgendwann von innen heraus lösen kann. Durch die Menschen selbst, die hier leben und des Konfliktes müde werden. Die ihre irrwitzige Regierung absetzen und Vernunft und Maß an diese Stelle rücken. Und die, wie immer, bevor sich etwas ändern kann, bereit sind, ihrer Angst vor Verlust zu begegnen. Oder auch loslassen.
Mein Rucksack wird voll sein.
An der Endhaltestelle steige ich um und fahre zurück. Nehme den letzten Bus vor Shabatbeginn.
Ich will nach Hause, nach Haifa.