Shabat, es ist wunderbar ruhig draußen- ich genieße es, lange zu schlafen. Als ich endlich aufstehe und mir einen starken arabischen Kaffee gekocht habe, gehört der Vormittag meinem Tagebuch.
Hungrig gehe ich zum Mittagessen ins Yad Ezer le Haver. Das Gefühl von Hunger kenne ich kaum in meinem Alltag, es ist gut, das von Zeit zu Zeit zu spüren. Aber mein Hunger ist ein luxuriöser Hunger, ein leichtes Knurren im Magen, ein lächerliches zwicken und nicht der Ansatz von Übelkeit. Ich muss an den Film von Shoshana denken- sie hatte immer Hunger. Immer. Nie satt. Immer hat der Körper dieses schmerzhafte Gefühl produziert. So viele Menschen erleben das tagtäglich weltweit. Meine Eltern haben mir von ihrem Hunger nach dem Krieg erzählt. Aber es bleibt ein astrakter Begriff- ich kann mir nicht vorstellen, was es bedeutet, diesen Hunger immer in sich zu tragen, von ihm besetzt zu sein. Als Shoshana im Film gefragt wird, was eines der schlimmsten Erinnerungen an das KZ ist, sagte sie nach kurzer Pause (in der ich mich auf Grausiges gefasst machte, denn Grausiges hatte sie bereits erzählt): Ich hatte immer Hunger...
Bevor ich an der Essensausgabe meinen Teller fülle, werde ich noch gebeten, die Suppe auszuteilen. An Shabat ist alles ein wenig knapper besetzt. Und nun stehe ich mit meinem lächerlichen Hunger im Magen an der Essensausgabe auf der anderen Seite. Ich kann geben. und gebe die gefüllten Schüsseln in zitternde, alte Hände, die sich ihre Teller mit großer Freude vollschaufeln.
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Nach dem Essen gehe ich mit Rita in den Park. Sie will mit mir reden. Es beginnt eine neue Geschichte, von der ich noch nicht weiß, wo sie hinführt. Rita hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Ich sitze auf der Bank neben einer Autorin, bestaune ihre zarten Hände, freue mich an ihrem Schmuck und schönem schwarzen Kleid. Schwarze schöne Schuhe mit bunten Perlen drauf, lackierte Zehennägel, die großen Zehen schmerzhaft zur Seite abgeknickt. Wie bei mir. Ich sitze gern neben ihr. Sie erzählt von Kindern und Enkelchen. Ich begleite sie nach Hause und halte dankbar ihr Geschenk in den Händen: Portrait of a Holocaust child.
Mit dem Buch im Arm laufe ich zum Arabischen Laden an der Ecke und kaufe mir frische Milch. Ich freue mich auf meinen Nachmittagskaffee.
Um 16 Uhr komme ich pünktlich zum Treffen im Dinig room. Es findet wöchentlich statt, am Samstag, vor dem Abendessen.
Chaim ergreift zu Beginn das Wort. Seine Stimme ist erregt, auch die Stimmen derer, die ihm antworten.Und nun erlebe ich ein Feuerwerk an
Diskussionen.Chaim- heftig, fanatisch. Heftiger Widerstand von
Rachel.
Hier scheint eine Gruppentherapie stattzufinden, ohne Therapeuten. Die Menschen, die sich hier allwöchentlich treffen, pflegen eine wunderbare Streitkultur, gehen mit Verve und Mut zum Risiko an die schwierigsten Themen heran, verarbeiten ihre Schmerzen, lassen sie zu. Sitzen zusammen und erziehen sich gegenseitig zu gesundem Menschenverstand. In dem Sprachengewirr erschnappe ich die Worte Juden, Araber, Drusen...Ich lausche atemlos der Diskussion auf hohem Niveau. Manja schiebt wortlos ein gebundenes Buch zu mir herüber: Reproduktionen ihrer Bilder, farbenfrohe, unglaublich filigrane Zeichnungen. Viele Wellenbewegungen und immer wieder Gesichter, die nahezu aus dem Nichts auftauchen, manchmal erst auf den 2. Blick zu erkennen sind. Viel Himmel, Wolken, darin auch Gesichter.
Neben mir sitzt Judith.
A funny woman, with a special kind of humour. Still, aber gewitzt. ich spüre es. Sie schaut mit auf die Bilder. das ist schön. Einmal fasse ich versehentlich zwei Seiten auf ein Mal. Ich werde von Judith sofort korrigiert. Kein Bild wird übersehen.
Wie selbstverständlich das alles ist.
Die Art, wie wir hier miteinander umgehen, tut mir unglaublich gut.
Hier wird sich wirklich noch unterhalten. Das ist eine schöne Kultur.
Auch wenn die Stimmen erregt sind. Wer etwas zu sagen hat, sagt.
Manche haben einen Zettel mitgebracht, etwas aufgeschrieben und tragen es vor. Ich glaube, Manja präsentiert ein Gedicht. Es wird geklatscht nach jedem Redebeitrag.
Nach dem Abendessen lädt mich Rachel noch auf einen Plausch ein.
Ich darf mir aussuchen, wie ich sie nenne: amerikanisch Rachel oder Rachel. Ich nenne sie Rachel und muss an meine Jüdin von Toledo denken. Wie gerne spreche ich den Namen aus.
Ich erhalte eine kleine, aber geballte Lektion in Geschichte. Rachel, Jahrgang 1937, wurde in Tel Aviv geboren. Die gesamte Familie ihrer Mutter ist im Holocaust umgekommen. Rachel macht ihrem Ärger auf den Prime Minister Luft. Seinem Unverstand, seiner schlechten Politik, die hier nur Unfrieden bringt. Was ist das auch für eine idiotische Entscheidung, hebräisch zur einzigen Amtssprache zu machen. Die Drusen demonstrieren derzeit vehement gegen die Ungleichbehandlung. In der Armee zu dienen, dafür sind sie gut genug. Die Drusen akzeptieren sogar den Anspruch Israels, ein jüdischer Staat sein zu wolen. Aber mit den jüngsten Entscheidungen ist das Fass wohl übergelaufen.
Heftig und leidenschaftlich spricht Rachel, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Ich hoffe auf mehr, lausche ihr, versuche mir zu merken, was sie sagt. Sie hat sich vorhin in der Runde am meisten mit Chaim angelegt, ihm resolut widersprochen, seinem Fanatismus gegen die Araber. Sie hat aufgehört zu sprechen, wenn andere sich unterhalten haben und ihr Recht auf diese Weise eingefordert, dass man ihr zuhört. Das hat mich schwer beeindruckt.
Von ihr höre ich, dass es hier keine oder kaum Menschen gab bevor die Stadt auf den Hügeln erbaut wurde. Und dass die Engländer den Palästinensern hier bei der Teilung einen eigenen Staat angeboten haben. Dies wurde von den Arabern abgelehnt. Dann kam es zum Krieg.
Sollte das der Kern sein? Wäre es gut gewesen, wenn damals die arabische Bevölkerung der Teilung zugestimmt hätte? Aber ihr Teil wäre viel kleiner gewesen, schon von Anfang an.
Marwan kommt mir in den Sinn. Im Chat frage ich ihn, wer hier lebte auf den Hügeln, wo ich die großen Bäume sehe zwischen den Häusern. Seine Antwort: Wherever you see cactus.. olives around the country be sure that arabs used to live there.
Tief in ihm ist diese große Wut. Ich kann sie spüren. Aber er ist zu müde, oder hat keine Lust, ihr nachzugeben.
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